Vergebung – Heilung oder Mythos?

Vergebung - Heilung oder Mythos?

Bisher war ich felsenfest davon überzeugt, dass Vergebung den Menschen hilft, über ein Verbrechen oder Unrecht hinwegzukommen. Immerhin bezeugen dies genügend Beispiele auf der Welt.

So las ich unter anderem in einem Zeitungsbericht von einer Mutter, die dem Mörder ihrer Tochter vergeben und dadurch ihren Frieden gefunden hat.

Auch habe ich selbst Erfahrung damit gemacht, mittels Vergebung ein belastendes Thema für mich abzuschließen. Das heißt nicht, dass es vergessen ist. Es bedeutet nur, dass ich das Ereignis ohne Schuldzuweisungen mit Distanz betrachte.

Und aus meinem privaten Umfeld wiederum kenne ich die Geschichte einer Frau, die sich selbst niemals vergeben hat, dass sie ihrem Mann nicht treu geblieben war. Sie erlegte sich daraufhin eine lebenslängliche Strafe auf: nämlich nie mehr einen Mann zu lieben. War sie glücklich damit? Wohl kaum. Sie starb allein, krank, ohne je wieder geliebt worden zu sein.

Ist das nicht alles Beweis genug, dass Vergebung doch heilend wirkt?

Nun, es ist leicht, etwas für die Wahrheit zu halten, solange man nicht auf eine gegenteilige Auffassung stößt. Und bisher habe ich von niemandem gehört, dem Vergebung nicht geholfen haben soll.

Dann hatte ich vor wenigen Monaten auf Facebook eine Unterhaltung mit Leuten, die vom Gegenteil überzeugt waren: Die Vergebung sei ein Mythos. Untermauert wurde deren Aussage mit einem Link, den ich mir gleich anschaute. Gut, er ist aus dem Jahr 2012, also nicht mehr ganz frisch, aber das heißt nicht, dass die Ansichten darin an Aktualität verloren haben. Zumal eine Reihe von Menschen davon überzeugt zu sein scheint.

Nun stand da eine Gegendarstellung im Raum, die mich nachdenklich machte. Ist es möglich, dass das heilende Mittel der Vergebung in Wirklichkeit ein großer Irrtum ist? Haben sich all jene, denen die Vergebung angeblich half und ich selbst mir etwas vorgemacht?

Was bedeutet Vergebung?

Nachdem ich mir in Ruhe Gedanken dazu gemacht habe, teile ich diese Überlegungen heute mit dir.

Doch zunächst möchte ich die Bedeutung der Begriffe Vergebung, Verzeihung und Versöhnung unterscheiden:

Vergebung ist, meiner Auffassung nach, ein innerer Prozess, bei dem man sich in das Geschehen und in den „Täter“ hineinversetzt, um das Erlebte für sich begreifbar zu machen. Das bedeutet aber auf keinen Fall, dass eine Tat entschuldigt ist. Vergebung ist unabhängig davon, ob der Peiniger Reue oder Einsicht zeigt. Man kommt mit ihm nicht in Kontakt.

Bei einer Verzeihung geht man einen Schritt weiter, indem man den, der einen verletzt hat, wissen lässt, dass man ihm vergibt. Das setzt aber meines Erachtens voraus, dass derjenige, der uns etwas angetan hat, es auch bereut und eventuell um Entschuldigung bittet. Ob man im Kontakt bleibt, hängt davon ab, ob man sich versöhnt, ist aber fürs Verzeihen nicht ausschlaggebend.

Zu einer Versöhnung kann es nur kommen, wenn der Geschädigte verziehen hat und sich beide einen Neuanfang wünschen. Das ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn es sich um keine schwerwiegenden, traumatisierenden Verletzungen handelt. Sonst könnte es zu einem erneuten Trauma führen.

Diese Unterscheidungen finde ich insofern wichtig, weil gerade ihre synonyme Verwendung häufig zu Missverständnissen führt.

Doch wie sieht es nun aus? Wirkt Vergebung heilend oder machen wir uns damit alle etwas vor?

Ist die Vergebung ein Verzicht auf Gerechtigkeit?

Wer eine Straftat begeht, muss zur Rechenschaft gezogen werden. Das steht außer Frage!

Doch was, wenn das nicht möglich ist, weil der Täter untergetaucht ist, nicht belangt werden kann oder sich gar selbst hingerichtet hat, wie im Falle der Mutter, die vor 12 Jahren ihre 24-jährige Tochter durch einen Amoklauf verloren hat? Wohin dann mit all dem Hass und der Wut, die sich innerlich aufstauen?

Wir könnten aufgrund eines Unrechts unser restliches Leben damit verbringen, den Hass gegen den Übeltäter aufrechtzuerhalten, jeden wissen lassen, was uns angetan wurde und auf Vergeltung pochen – ob nun möglich oder nicht. Dabei sollten wir uns aber gewiss sein, dass uns das wahrscheinlich bis an unser Lebensende emotional an den Täter fesselt – und zwar als das Opfer, als das er uns zurückgelassen hat.

Eine andere Möglichkeit wäre, das nicht wiedergutzumachende Ereignis zu verdrängen, um unser Leben so normal wie möglich weiterzuführen. Aber dieser unterdrückte seelische Schmerz legt sich aufs Herz und gefährdet unsere Gesundheit. Experten belegen den Zusammenhang zwischen emotionalem Stress und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Also ist Verdrängung auch keine gute Idee.

Was bleibt da noch? Doch die Vergebung? Mir fällt zumindest nichts Besseres ein (Dir? Dann schreib es mir bitte in die Kommentare!). Studien, die sich mit dem Prinzip der Vergebung beschäftigen, bestätigen zumindest die heilende Wirkung.

Ein Name, der bei meinen Recherchen immer wieder auftaucht, ist Robert Enright. Der Psychologe gründete 1994 in Wisconsin das International Forgiveness Institute. Bei seinen Studien mit zum Teil schwer traumatisierten Teilnehmern zeigten sich die positiven Auswirkungen nach seinem Therapieprogramm: Wem es gelungen ist, zu vergeben, der litt nachweislich weniger unter Ärger, Depressionen und Ängsten. Sie blickten sogar wieder optimistischer in die Zukunft.

Braucht Vergebung die Einsicht des Missetäters?

Um nach meiner Definition jemandem persönlich verzeihen zu können, ist es eine Voraussetzung, dass derjenige, der dir ein Leid zugefügt hat, Reue zeigt und gegebenenfalls um Verzeihung bittet. Anderenfalls brauchst du ihm niemals zu sagen, dass du ihm vergibst!

Vergebung spielt sich, wie oben erwähnt, ohnehin im Innern ab. Dafür brauchst du nicht auf die Einsicht des Peinigers warten. Das wäre auch schlimm, wenn deine Gefühlswelt von seinem Schuldbekenntnis abhinge. Nicht jeder Mensch ist schließlich einsichtig oder hat den Mut, es zu sein. Sollst du dich denn dann deine Lebtage damit herumquälen und in Gram versinken?

Nein!

Wer vergibt, tut es in erster Linie für sich selbst. Denn der Frust über ein erlebtes Übel schadet uns am meisten. Es belastet ungemein die Psyche. Und wie das unserem Herzen zusetzt und damit unsere körperliche Verfassung beeinträchtigt, davon habe ich oben bereits erzählt.

„Die Reaktionen auf ein erlittenes Unrecht können zerstörerischer sein als das Erlebnis selbst. Wenn wir darauf warten, dass der andere einsieht, was er uns angetan hat, bevor wir unseren Schmerz loslassen, dann geben wir ihm die Macht über unser eigenes Wohlbefinden.“

Robert Enright [Quelle: GEOkompakt NR. 63: Richtig streiten. Gruner + Jahr GmbH. Hamburg 2020. (S. 94)]

Hätte ich meinem Erzeuger im Herzen nie vergeben, dass er mir einen Teil meiner Kindheit zerstört hat, wäre ich heute noch depressiv deswegen. Er hat es aus meinem Mund nie gehört, weil ich es nicht ausschlaggebend für den Prozess der Vergebung finde. Mir war wichtig, dass ich damit abschließe. Was er aus seiner Schuld macht, ist seine Sache.

Heißt Vergebung, das Unrecht zu leugnen?

Laut derer, die meinen, dass Vergebung ein Mythos sei, müsste die Frau, die sich ihren Fehltritt nie vergeben konnte, alles richtig gemacht haben. Doch was hat es aus ihrem Leben gemacht? Wäre es nicht gesünder gewesen, sich selbst zu verzeihen? Sie hatte schließlich ihr Leben noch vor sich, als sie beschloss, sich nie mehr einem Mann hinzugeben.

Sich selbst zu vergeben ist scheinbar um einiges schwerer, weil wir dabei einer Seite in uns gegenübertreten müssen, die wir lieber nicht an uns wahrnehmen möchten. Vergebung ist also keine Verleugnung, sondern Bewusstwerdung. Wenn wir einen anderen Menschen zutiefst verletzt haben, bleibt es für die Selbstversöhnung nicht aus, anzuerkennen, dass in uns ein Verräter, Schuldiger, Übeltäter existiert. Zu akzeptieren, dass wir nicht durch und durch gut sind, ist hier der Schlüssel der Selbstvergebung.

Wir alle sind Menschen mit Fehlern.

So eben auch die Dame in meinem Familienkreis: Als ihr Mann im Zweiten Weltkrieg diente, war nach geraumer Zeit nicht abzusehen, ob sie ihn je wiedersehen würde. Ihre Sehnsucht nach Zuneigung führte die junge Frau schließlich in die Arme eines anderen. Doch als ihr Gatte eines Tages wieder vor der Tür stand, beichtete sie ihm ihren Ausrutscher, woraufhin er sie verließ. Hätte sie sich diesen Fehler verziehen, wäre sie vielleicht irgendwann mit einem anderen Mann glücklich geworden und hätte Kinder bekommen. So blieb sie ihr restliches Leben allein.

Ob der Betrogene ihr je vergeben hat, ist nicht bekannt. Wenn, dann hat er es sie nie wissen lassen. Hat er ihr jedoch im Herzen vergeben, dann muss er sich mit den einhergehenden Gefühlen seiner Verletzung auseinandergesetzt und genauso müsste er sich in ihre Situation hineinversetzt haben. Mit Verleugnung funktioniert Vergebung nun mal nicht.

Fazit

Zusammenfassend möchte ich nochmal festhalten:

  • Vergebung nimmt dem Peiniger nicht die Schuld!
  • Sie ist nicht auf Reue und Einsicht angewiesen, weil sie nur im Innern stattfindet!
  • Sie verlangt nicht, dass du persönlich verzeihst oder mit dem Übeltäter in Kontakt trittst!
  • Vergebung ist nicht Versöhnung!
  • Gerechte Strafe erleichtert das Vergeben, ist aber keine Bedingung!
  • Zu vergeben entlastet das Herz und wirkt heilend auf die Psyche!
  • Vergebung ist Bewusstwerdung!
  • Wer vergibt, hat nicht automatisch vergessen!
  • Sich seiner eigenen Schattenseiten gewahr zu werden, ist der Schlüssel zur Selbstvergebung!

Letztendlich steht es jedem Menschen frei, wie er mit seinem Groll, seinem Hass und der Wut gegen ein zugefügtes Leid umgehen möchte. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, mit dem widerfahrenen Unrecht zurechtzukommen. Für wen Vergebung keine Option ist, der braucht eine andere Strategie, um wieder nach vorne schauen zu können.

Da ich im Moment keine bessere Methode als die Vergebung kenne, vergebe ich lieber, als dass ich mich ewig mit meinem Ärger und der Frustration herumquäle, wenn mich jemand verletzt hat. Solche Menschen werden rigoros aus meinem Herzen aussortiert. Denn zum Vergeben brauche ich auch einen gewissen Abstand. Ich muss solche Personen nicht wieder in mein Leben lassen, wenn sie keine Reue bekennen. Dennoch kann ich ihnen vergeben.

Wie stehst du zur Vergebung? Findest du sie sinnvoll oder hast du eine bessere Strategie für dich entdeckt, um dein Leben nach Verrat, Lüge oder Gewalt in Frieden weiterzuleben? Ich bin gespannt auf deine Meinung!

Da gerade auch bei familiären Konflikten Vergebung eine wichtige Rolle spielt, empfehle ich dir meinen Beitrag: Ohne Vater: Wie du die negativen Folgen minimierst. Vielleicht ist das ja ein Thema, das dich belastet.


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Bild von Myriams-Fotos auf Pixabay

5 thoughts on “Vergebung – Heilung oder Mythos?

  1. B. Cottin says:

    Tolle Zusammenfassung! Danke!
    Leider, leider werden die drei Begriffe zu oft verwechselt, und noch das Vergessen dazu gemischt.
    Vergeben ist nicht Vergessen, sondern ein Neu-Interpretieren.

  2. Froggy says:

    Das Wort „Verzeihen“ ist verwandt mit dem Wort „Verzichten“. Verzeihen bedeutet Verzichten auf Rache, beziehungsweise Strafe. Nicht mehr und nicht weniger.
    Völlig falsch finde ich, wenn dem Täter demonstrativ eine besonders liebreiche Geste geboten wird. Diese liebevolle Zuwendung kann wie eine Belohnung wirken und Wiederholungstäter anstacheln. Dieser Bückling vor dem Täter gehört meiner Meinung nach nicht zur Vergebung.

    Man kann die Sache auch mal einfach „links liegen“ lassen, das ist bereits Verzeihen, weil keine Strafe erfolgt.
    Ich finde nicht, dass der Täter wissen muss, dass ich mich entschieden habe, die Sache „links liegen“ zu lassen. Es schadet nichts, wenn der Täter sich gedanklich ein bisschen mit möglichen Konsequenzen seiner Tat auseinandersetzt.

    Verzeihen ist EINE mögliche Reaktion auf ein erlittenes Unrecht. Verzicht auf Strafe kann sinnvoll oder notwendig sein. Wenn der Täter nicht zu greifen ist. Wenn er viel mächtiger ist. Oder wenn die Tat gerinfügig ist und eine Strafe mehr Unheil als Nutzen bringen würde.

    Verzeihen ist aber nicht immer die sinnvollste Lösung.
    Wenn der Täter seine Tat dauernd wiederholt, dann gehört ihm durchaus mal „eins auf den Deckel“. Oft hat solch ein Täter sich selber nicht gut im Griff und ist sogar dankbar um eine Grenze, die man ihm setzt.
    Nicht sinnvoll ist es, wenn man den Täter immer wieder von den Konsequenzen seiner Tat verschont. Das ist vielleicht gut gemeint, aber so lernt er niemals etwas dazu. Immer wieder Verzeihen ist auch für den Täter nicht gut. Es ist nur gesund, wenn der Täter mal die Konsequenzen seiner Tat erfährt.

  3. Froggy says:

    Noch ein Gedanke von mir:
    Du möchtest aus Deiner Opferrolle raus.Du möchtest Heilung. Verständlich!

    Meine Idee:
    Wenn Du Deine Opferrolle ablegen möchtest, dann sorge dafür, dass der Täter seine Tat nicht wiederholen kann!
    Schaffe Bedingungen, die zu Deinem Schutz beitragen. Das kann durch Distanz sein, durch Schaffen eines finanziellen Polsters. Auch mal durch Konsequenzen bei einem Wiederholungstäter. Es gibt viele Möglichkeiten. Der Täter kann erfahren, was Du planst, wenn das zu Deiner Sicherheit beiträgt. Oder Du kannst Deine Pläne für Dich behalten, wenn diese Strategie mehr nützt.

    • Annabel says:

      Vielen Dank für deine ergänzenden Gedanken!

      Ich finde deinen Beitrag zu dem Thema sehr wertvoll, denn du fasst deutlich zusammen, wann Vergebung sinnvoll ist: „Wenn der Täter nicht zu greifen ist. Wenn er viel mächtiger ist. Oder wenn die Tat gerinfügig ist und eine Strafe mehr Unheil als Nutzen bringen würde.“

      Und du hebst hervor, wann Verzeihung nicht ausreicht: „[…] wenn man den Täter immer wieder von den Konsequenzen seiner Tat verschont.“

      Jemandem immer wieder zu verzeihen halte auch ich nicht für gesund. Es ist wichtig, Grenzen ziehen zu können, wenn man nicht zum Spielball eines anderen werden möchte.

      Hat sich jemand aus Angst vor den Konsequenzen entschuldigt, ist Verzeihen eine freundliche Geste. Führt das dazu, dass der- oder diejenige denselben Fehler noch einmal begeht, wurde die zweite Chance verspielt. Spätestens jetzt sollte er oder sie mit den Konsequenzen leben müssen.

      Natürlich gilt dies nicht bei schweren Vergehen. Da sollten die Konsequenzen nach Möglichkeit sofort folgen beziehungsweise in die Wege geleitet werden. Und wie du zum Schluss schon schreibst, dafür Sorge getragen werden, „dass der Täter seine Tat nicht wiederholen kann!“

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